Die Entwicklung bis zum "Kann"-Erlass vom 6. Oktober 1942

 

Trotz der Vielzahl an Präventivmaßnahmen des NS-Regimes gehörte es zum Alltag des Aufenthalts von Zwangsarbeiterinnen im Deutschen Reich, dass diese - freiwillig oder auch nicht freiwillig – schwanger wurden. Es hatte sich zudem herumgesprochen, dass schwangere Zwangsarbeiterinnen auf Kosten des deutschen Staates in ihre Heimat zurückgebracht werden. In einem Erlass des Reichsarbeitsministeriums (RAM) vom 16. Juli 1940 heißt es dazu: "Polnische weibliche Arbeiterinnen, die schwanger sind, müssen nach Bekanntwerden der Schwangerschaft, unabhängig von ihrer Dauer und vom Zeitpunkt ihrer Feststellung, auf Kosten des Reichsstocks für Arbeitseinsatz zurückgeschickt werden. Es muss dafür gesorgt werden, dass die Entbindung in ihrer Heimat stattfindet."[1]

Der Amtsvorsteher des Amtsbezirkes Koldenbüttel hatte in dieser Angelegenheit (als Ortspolizeibehörde) am 30. April 1941 an den Landrat des Kreises Eiderstedt in Tönning geschrieben und moniert: „In der letzten Zeit mehren sich die Fälle von Schwangerschaft unter den Polinnen, die wissen, dass sie ein bis zwei Monate vor der Niederkunft in ihre Heimat abgeschoben werden. Sie betrachten es also als Mittel zum Zweck. ... Da der hiesigen Landwirtschaft auf diese Weise viele gute Arbeitskräfte entzogen werden, möchte ich zu bedenken geben, ob nicht mit Strafen, Konzentrationslager oder so, gegen die Betreffenden vorgegangen werden kann.“[2]

 

Der Rückführungserlass für schwangere Zwangsarbeiterinnen (August 1941)

Die Bedenken des Amtsvorstehers von Koldenbüttel hinsichtlich des Verlustes von dringend benötigten Arbeitskräften wurden zu diesem Zeitpunkt an höherer Stelle (noch) nicht geteilt. Um den deutschen Staat von der Versorgungsproblematik für die Schwangeren zu entlasten, wurde von den Verantwortlichen beschlossen, lieber auf die Arbeitskraft dieser Frauen zu verzichten. Am 13. August 1941 verfügte der Reichsarbeitsminister Franz Seldte in einem Erlass an die Landesarbeitsämter und Arbeitsämter: „Grundsätzlich sind schwangere ausländische Arbeiterinnen sofort nach Bekanntwerden der Schwangerschaft, unabhängig von deren Dauer und dem Zeitpunkt der Feststellung, in die Heimat zurückzubefördern. Die Betriebe, denen ausländische Arbeiterinnen zugewiesen werden, sind daher zu verpflichten, das Arbeitsamt unverzüglich zu unterrichten, sobald sie von der Schwangerschaft eines ihrer weiblichen ausländischen Gefolgschaftsmitglieder Kenntnis erhalten.“[3]

Die Auswirkungen dieses Erlasses sind von den Verantwortlichen völlig falsch eingeschätzt worden, denn die Anzahl der Schwangeren nahm jetzt kontinuierlich zu und viele von ihnen konnten nicht mehr „rechtzeitig“ in die Heimat zurückgeschickt werden. Der Landrat des Kreises Pinneberg monierte am 15. August 1941 in einem Schreiben an die Bürgermeister des Kreises, dass „in jüngster Zeit polnische Arbeiterinnen, die in der Landwirtschaft beschäftigt waren, in Krankenhäusern des Kreises bzw. in Entbindungsanstalten in Hamburg zur Entbindung gekommen sind.“[4]

Für derartige Fälle war im RAM-Erlass vom 13. August 1941 der Punkt 3 formuliert worden: „Wenn eine ausländische Arbeiterin nicht mehr rechtzeitig vor der Entbindung in die Heimat zurückbefördert werden kann, weil weder der Betriebsführer noch das Arbeitsamt über die bevorstehende Niederkunft unterrichtet war, hat die Rückbeförderung sofort nach Transportfähigkeit zu erfolgen, sofern sich nicht der Betriebsführer ausdrücklich verpflichtet, für die Unterbringung der Mutter mit Kind zu sorgen.“ Außerdem ist noch auf den Punkt 2 im RAM-Erlass hinzuweisen: „Von einer Rückbeförderung schwangerer Ausländerinnen kann nur dann abgesehen werden, wenn der Betriebsführer auf die Erhaltung der Arbeitskraft besonderen Wert legt und sich schriftlich verpflichtet, für die weitere Unterbringung der Ausländerinnen und des zu erwartenden Kindes zu sorgen.“[5]

 

Der „Kann“-Erlass zur Ernährungsfrage (Oktober 1942)

Es war also nicht möglich, das Vorhandensein von Zwangsarbeiterinnen mit Kindern gänzlich zu verhindern. Deshalb sah sich das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft im Oktober 1942 zum Handeln gezwungen und regelte in einem Erlass wie die Kinder von Zwangsarbeiterinnen (ihrer Situation angemessen) ernährt werden könnten. Hier heißt es: „In verschiedenen Lagern sind auch Kinder untergebracht. Diese können wöchentlich 1500 g Brot und die Hälfte der den Ostarbeitern sonst zustehenden Lebensmittel erhalten. Außerdem können Kleinstkindern bis zu 3 Jahren 0,5 l Vollmilch, Kindern von 3-14 Jahren 0,25 l Vollmilch gewährt werden.“[6]

Ein idealtypischer „Kann“-Erlass, den Bernhild Vögel so einschätzte, dass „die Ernährung der polnischen und sowjetischen Kinder ins Belieben der örtlichen Behörden gestellt war.“[7]

 

Die weitere Entwicklung bis zur Neuregelung der Ernährungsproblematik im Januar 1944


[1] Erlass des Reichsarbeitsministers Franz Seldte 834/40 (I b 2265 vom 16. Juli 1940), in: Runderlasse des RAM für die Arbeitseinsatz-, Reichstreuhänder- und Gewerbeaufsichtsverwaltung [ARG] (Nur für den inneren Dienst), 2. Jahrgang (1940), S.426.

[2] LASH Abt. 320 Eiderstedt Nr. 1010 (1)

[3] Erlass des Reichsarbeitsministers Franz Seldte vom 13. August 1941, in: Reichsarbeitsblatt Teil I, 1941, S.364.

[4] Schreiben des Landrats vom 15. August 1941, in: LASH Abt. 320.12 Nr. 933.

[5] Wie Anmerkung 2.

[6] Der Erlass vom 6. Oktober 1942 wurde zitiert nach Bernhild Vögel: „Entbindungsheim für Ostarbeiterinnen“, Hamburg 1999, S.40. Er befindet sich auch im Bundesarchiv in Berlin unter BA R14/100d.

[7] Bernhild Vögel (wie Anm. 5), S.40.

 

© Uwe Fentsahm (Brügge, Mai 2021)