Die weitere Entwicklung bis zur Neuregelung der Ernährungsproblematik im Januar 1944 [Hinter den Kulissen tobt ein Machtkampf zwischen rassistischen Hardlinern und pragmatischen Arbeitseinsatz-Beamten]
Keine Rückführung von schwangeren Zwangsarbeiterinnen (Dezember 1942)
Am 15. Dezember 1942 wandte sich der „Generalbevollmächtige für den Arbeitseinsatz“ (GBA) Fritz Sauckel an die Präsidenten der Landesarbeitsämter und ordnete an: „Von einer Rückführung aller Schwangeren, sonst aber einsatzfähigen Ostarbeiterinnen ist grundsätzlich abzusehen.“ Als Begründung für diese zunächst bis zum 31. März 1943 befristete Anordnung führte der GBA an: „Dabei standen für mich die im Kriege besonders vordringlichen Gesichtspunkte des Arbeitseinsatzes an erster Stelle.“[1]
Die Bedenken des Koldenbütteler Amtsvorstehers vom April 1941 (s.o.), der schon damals die Rückführungspraxis kritisch gesehen und auf den Verlust wertvoller Arbeitskräfte aufmerksam gemacht hatte, waren jetzt auch an höherer Stelle angekommen, und es wurde eine 180-Grad-Wende beschlossen. Die Sicherung von Arbeitskräften stand jetzt im Vordergrund, an eine adäquate Versorgung der Kinder war nicht gedacht worden.
(Keine) Ernährungszulagen für Mutter und Kind (März 1943)
Am 20. März 1943 informierte der GBA per Erlass die Präsidenten der Landesarbeitsämter darüber, dass die eigentlich vorgesehene Befristung einer Nichtrückführung von schwangeren Ausländerinnen in ihre Heimatländer „zunächst“ bis zum Ende des Krieges aufgehoben sei. Es wurde ausdrücklich bestimmt, dass das neu geregelte Mutterschutzgesetz vom 17. Mai 1942 nicht für „Ostarbeiterinnen“ und Polinnen gelten sollte. Sie erhielten nur den „Mindestschutz“, das waren „2 Wochen vor und 6 Wochen nach der Niederkunft“. In dieser Zeit sollten sie aber trotzdem für Haus- und Heimarbeiten eingesetzt werden. Bei größeren Lagerkomplexen waren dafür entsprechende „Beschäftigungsbaracken“ zu schaffen.[2]
Im ersten Satz von Punkt 8 des Erlasses heißt es: „Ausländische Arbeiterinnen sind den deutschen Arbeiterinnen auf dem Lebensmittelsektor gleichgestellt. Demgemäß erhalten werdende und stillende Mütter sowie Wöchnerinnen die üblichen Ernährungszulagen.“ Das hört sich gut an, aber im zweiten Satz wird eingeschränkt: „Keine Zulagen erhalten Ostarbeiterinnen und Polinnen.“
Der dritte Satz von Punkt 8 hört sich wiederum vielversprechend an: „Die Säuglinge der ausländischen Arbeiterinnen erhalten die gleiche Ernährung wie deutsche Kleinstkinder.“ Im vierten Satz steht allerdings: „Die Säuglinge von Ostarbeiterinnen und Polinnen erhalten bis zu 3 Jahren 0,5 l Vollmilch (vgl. Rderl. 1305/42).“ Die Betreiber der späteren „Ausländerkinder-Pflegestätten“ haben diesen vierten Satz vielfach so verstehen wollen, dass den Säuglingen nur 0,5 l Vollmilch (täglich?) zugestanden werden sollte.[3]
Ein SS-Gruppenführer mischt sich ein (August 1943)
Dieses insgesamt Menschen verachtende Verhalten gegenüber den Zwangsarbeiterinnen aus Polen und der Sowjetunion und ihren Kindern war reichsweit zu beobachten und veranlasste den SS-Gruppenführer Hilgenfeldt, sich in einem Schreiben vom 11. August 1943 direkt an Himmler zu wenden. Hilgenfeldt hatte ein „Säuglingsheim“ besichtigt und festgestellt, „dass sämtliche in dem Heim befindlichen Säuglinge unterernährt sind.“ Es „werden auf Grund einer Entscheidung des Landesernährungsamtes dem Heim täglich nur ½ l Vollmilch und 1 ½ Stück Zucker für den einzelnen Säugling zugewiesen. Bei dieser Ration müssen die Säuglinge nach einigen Monaten an Unterernährung zugrunde gehen. Es wurde mir mitgeteilt, dass bezüglich der Aufzucht der Säuglinge Meinungsverschiedenheiten bestehen. Zum Teil ist man der Auffassung, die Kinder der Ostarbeiterinnen sollen sterben, zum anderen Teil der Auffassung, sie aufzuziehen. Da eine klare Stellungnahme bisher nicht zustande gekommen ist und, wie mir gesagt wurde, man das Gesicht gegenüber Ostarbeiterinnen wahren wolle, gibt man den Säuglingen eine unzureichende Ernährung, bei der sie, wie schon gesagt, in einigen Monaten zugrunde gehen müssen.“[4]
Die Reaktion Himmlers auf das Schreiben Hilgenfeldts (September 1943)
Der angeschriebene Heinrich Himmler reagierte am 14. September 1943 schriftlich und stellte fest: „Nach meiner Ansicht ist es nicht vertretbar, den Müttern dieser Kinder gegenüber lediglich das Gesicht zu wahren, so dass die Kinder durch die unzureichende Ernährung zugrunde gehen. Wenn wir schon durch die Einrichtung eines solchen Heimes [AKPS] die Frage im positiven Sinne anfassen, müssen wir auch dafür Sorge tragen, dass die Kinder aufgezogen werden können.“ Abschließend forderte Himmler den angeschriebenen „Parteigenossen Eigruber“ auf, ihm mitzuteilen, „auf welche Weise Sie hier Abhilfe schaffen können.“[5]
Der neue Erlass zur Regelung der Ernährungsfrage (Januar 1944)
Der Prozess der Entscheidungsfindung in dieser Angelegenheit verzögerte sich noch bis zum 6. Januar 1944: Das Reichsernährungsministerium gab einen neuen Erlass heraus und gestand ein, dass die bisherigen Rationen zur „ordnungsgemäßen Versorgung“ der Kinder, die in „Pflegestätten“ untergebracht waren, nicht ausreichten. Kinder unter einem Jahr sollten jetzt wöchentlich Brot bzw. Weizenmehl (800 g), Butter (100 g), Nährmittel (250 g), Zucker (300 g), Tee-Ersatz (7 g), Vollmilch (3,5 l) und Kartoffeln (2500 g) erhalten.[6]
Das Leben von Henry Hetner konnte trotzdem nicht mehr gerettet werden. Er starb am 5. Januar 1944 im „Ostarbeiterkinderheim“ in Wiemersdorf, also einen Tag vor diesem neuen Erlass. Es fragt sich auch, inwieweit dieser Erlass kriegsbedingt in den einzelnen Dörfern des Reiches noch zur Kenntnis gelangen konnte. In Wiemersdorf sind jedenfalls - trotz dieses Erlasses - bis zum Ende des Krieges noch 14 weitere Kleinkinder gestorben, u.a. weil die Meiereigenossenschaft (wohl auf Druck des NS-Bürgermeisters Hans Schümann) die Abgabe von Milchprodukten verweigerte.
Der Erlass vom 6. Januar 1944
[1] Der Erlass des GBA vom 15. Dezember 1942 ist vollständig abgedruckt bei Raimond Reiter: Tötungsstätten für ausländische Kinder im Zweiten Weltkrieg, Hannover 1993, S.247 f.. Amtliche Abschriften des Erlasses finden sich auch in: LASH Abt. 320.12 Nr. 933 und in: LASH Abt. 611 Nr. 634.
[2] Erlass des GBA vom 20. März 1943 [VI 2 – 1940/7], in: Bundesarchiv (BA) R 3901/20469 und in: Stadtarchiv Neumünster, MA 5481.
[3] Mit Runderlass 1305/42 ist der „Kann“-Erlass vom 6. Oktober 1942 gemeint. Vgl. hierzu Bernhild Vögel: „Entbindungsheim für Ostarbeiterinnen“, Hamburg 1999, S.40.
[4] Das (geheime) Schreiben Hilgenfeldts vom 11. August 1943 ist vollständig abgedruckt bei Raimond Reiter (wie Anm. 1), S.249 f.
[5] Das (geheime) Schreiben Himmlers an Eigruber vom 14. September 1943 ist vollständig abgedruckt bei Raimond Reiter (wie Anm. 1), S.248 f.
[6] Bernhild Vögel (wie Anm. 3), S.42. Der Erlass des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (RMEuL) vom 6. Januar 1944 ist im Bundesarchiv in Berlin zu finden unter BA R 14/100 f. Außerdem befindet er sich nach Angaben von Raimond Reiter (wie Anm. 1), S.57 auch in: Runderlasse für die Arbeitseinsatz-, Reichstreuhänder- und Gewerbeaufsichtsverwaltung (ARG), Berlin 1944, S.248. Des Weiteren wurde dieser Erlass des RMEuL „mit Datum vom 2.6.1944 vom GBA an die ihm unterstellten Stellen gegeben“. Raimond Reiter (wie Anm. 1), S.57.
© Uwe Fentsahm (Brügge, Mai 2021)