Die Problematik des Stillens durch "Ostarbeiterinnen" und Polinnen
Punkt 8 des GBA-Erlasses vom 20. März 1943
Generell war man der Ansicht: „Ein vorzeitiges Abstillen ist nicht erforderlich. Im Allgemeinen werden die Säuglinge durch das Stillen am schnellsten versorgt und beanspruchen weniger Pflege als künstlich ernährte Säuglinge. Den ausländischen Müttern soll deshalb Gelegenheit zum Stillen ihrer Kinder gegeben werden.“[1]
Bernhild Vögel hat angenommen, dass Polinnen und "Ostarbeiterinnen" von dieser Regelung wieder ausgenommen waren und schreibt dazu: „Gerade weil sie [die "Ostarbeiterinnen" und Polinnen] nicht stillen sollten, wurde den Kindern 0,5 l Vollmilch zugebilligt."[2]
Rein formal hat es aber für Mütter aus Polen und der Sowjetunion die Möglichkeit zum Stillen ihrer Kinder gegeben, denn in dem Punkt 8 des Erlasses vom 20. März 1943 heißt es weiter: „Den ausländischen Müttern, für die der Mindestschutz gilt, ist während der Arbeitszeit zweimal eine je halbstündige unbezahlte Stillpause oder, wenn Stillmöglichkeit im Betriebe nicht besteht und das Lager sich nicht in der Nähe des Betriebes befindet, einmal eine einstündige bezahlte Stillpause zu gewähren.“[3]
Diese Bestimmung galt also in dieser Form für "Ostarbeiterinnen" und Polinnen, da ihnen der Mindestschutz gewährt wurde. Allerdings war den Verantwortlichen hier "durch ein Büroversehen" ein Druckfehler unterlaufen, der am 13. April 1943 korrigiert wurde: "Es ist entsprechend der Regelung bei der zweimaligen halbstündigen unbezahlten Stillpause auch die einmalige einstündige Stillpause unbezahlt zu gewähren."[4]
Aus heutiger Sicht betrachtet, sind die damals gebotenen Stillmöglichkeiten natürlich nicht ausreichend gewesen, und es stellt sich die Frage, ob die Mütter unter diesen Bedingungen überhaupt in der Lage waren, über einen längeren Zeitraum zu stillen. Wenn das nicht der Fall war, dann musste ja das Angebot der Verabreichung von Vollmilch [täglich 0,5 l laut "Kann"-Erlass vom Oktober 1942] angenommen werden. Dies wiederum würde bedeuten, dass man bei Verabreichung von (reiner) Vollmilch den Tod der Kinder (bewusst?) in Kauf genommen hat, da diese für Säuglinge gar nicht verträglich war.
Vollmilch ist gar nicht lieferbar! Warum eigentlich nicht?
Auf der anderen Seite war reine Vollmilch auch für deutsche Volksgenossen kaum noch erhältlich. Gisela Schwarze merkte in dieser Hinsicht an: „Die in den Bestimmungen genannte Vollmilch war zu jener Zeit – auch für Deutsche – eine bläuliche Magermilch.“[5] Diese Aussage findet ihre Bestätigung in einer Tabelle aus dem Frühjahr 1941, die den Bürgermeistern der einzelnen Gemeinden durch den Landrat zugeleitet wurde, um ihnen mitzuteilen, welchem in der Landwirtschaft beschäftigten Ausländer welche Ernährungsration vom NS-Staat zugebilligt wurde:
[Erlass des REM zur "Versorgung ausländischer und polnischer Landarbeiter" (II C 9-131) vom 22. April 1941, Archiv Fentsahm]
Wie lange durften (im Arbeitseinsatz befindliche) deutsche Mütter stillen?
In §5 des Mutterschutzgesetzes heißt es: "Stillenden Müttern ist auf ihr Verlangen die zum Stillen erforderliche Teit freizugeben. Die Stillzeit soll bei einer zusammenhängenden Arbeitszeit von mehr als viereinhalb Stunden fünfundvierzig Minuten betragen. Bei einer zusammenhängenden Arbeitszeit von acht oder mehr Stunden soll auf Verlangen zweimal eine Stillzeit von fünfundvierzig Minuten oder, wenn in der Nähe der Arbeitsstätte keine Stillgelegenheit vorhanden ist, einmal eine Stillzeit von neunzig Minuten gewährt werden."[6]
"Die Arbeitszeit gilt als zusammenhängend, soweit sie nicht durch eine Ruhepause von mindestens zwei Stunden unterbrochen wird. Ein Lohnausfall darf durch die Gewährung der Stillzeit nicht eintreten. Das Gewerbeaufsichtsamt kann ... die Einrichtung von Stillräumen vorschreiben."
Fazit: Wenn eine deutsche Mutter acht Stunden arbeitete, dann standen ihr zwei (bezahlte) Möglichkeiten zum Stillen zur Auswahl: einmal 90 Minuten oder zweimal 45 Minuten. Für die Mütter aus Polen und der Sowjetunion waren die Stillzeiten im entsprechenden Fall unbezahlt und kürzer geregelt: einmal 60 Minuten oder zweimal 30 Minuten.
Der "Mindestschutz" für Ausländerinnen
[1] Punkt 8 des GBA-Erlasses vom 20. März 1943.
[2] Bernhild Vögel: „Entbindungsheim für Ostarbeiterinnen“, Hamburg 1999, S.40.
[3] Punkt 8 des GBA-Erlasses vom 20. März 1943.
[4] Erlass des GBA vom 13. April 1943 [VI 2-1940/33] an die Präsidenten der Landesarbeitsämter, in: BA R 3901/20469.
[5] Gisela Schwarze: Kinder, die nicht zählten. Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im Zweiten Weltkrieg, Essen 1997, S.126.
[6] Das Mutterschutzgesetz von 1942 wurde im Reichsgesetzblatt 1942, Teil I, S.321-324 veröffentlicht.
© Uwe Fentsahm (Brügge, Mai 2021)