"Alle Kindergräber sind aus den Listen zu streichen!"

Der Erlass des schleswig-holsteinischen Innenminsteriums vom 2. Juli 1955

 

Im Archiv der Friedhofsverwaltung von Bad Bramstedt wurde eine dreiseitige Kriegsgräberliste aus dem Jahre 1954 gefunden, in der zahlreiche Änderungen, Berichtigungen und Streichungen vorgenommen wurden. Insgesamt werden 23 Personen genannt, deren Gräber offensichtlich alle nach §6 e) des Kriegsgräbergesetzes von 1952 als Kriegsgräber anerkannt worden waren. Darunter befinden sich auch die 15 Kindergräber.[1]

§6 e) bezieht sich auf die "ausländischen Arbeiter, die während des zweiten Weltkriegs von der deutschen Arbeitseinsatzverwaltung für eine Beschäftigung im damaligen Reichsgebiet verpflichtet wurden und während der Zeit ihres Arbeitseinsatzes gestorben sind." Das bedeutet wiederum, dass auch die 15 Kinder als "ausländische Arbeiter" angesehen worden waren. Sie befanden sich als solche in den Listen des Voksbundes, und ihre Karteikarten wurden entsprechend in die Volksbund-Kartei des Jahres 1954 einsortiert.

 

[Seite 1 der dreiseitigen Gräberliste von 1954, Archiv der Friedhofsverwaltung Bad Bramstedt.]

Bei Nr.4 (Irene Kwasniewska), Nr.7 (Nina Busom), Nr.8 (Irene Gryglak) und Nr.9 (Henry Hetner) handelt es sich um Kleinkinder, die ursprünglich nach §6 e) als "ausländische Arbeiter" aufgelistet wurden. Gleiches gilt für Nr.10 (Lepczynski), Nr.11 (Johann Marciniak), Nr.12 (Christine Nadanyuska), Nr.13 (Ursula Nadanyuska), Nr.17 (Janina Posluschny), Nr.18 (Julek Polzig), Nr.19 (Jan Stanisch), Nr.20 (Hedwig Tyra), Nr.21 (Stanislaus Watczyk) und Nr.22 (Ella Wowk). Es handelt sich bisher also um 14 Namen.

 

[Seite 2 der dreiseitigen Gräberliste von 1954, Archiv der Friedhofsverwaltung Bad Bramstedt.]

Bei Nr.15 (Anna Prokopiak) wurde in der Gräberliste fälschlicherweise das Geburtsdatum mit 11.12.1924 angegeben. Richtig hätte es heißen müssen 11.02.1944. Anna Prokopiak ist nur 16 Tage alt geworden, galt den Behörden fortan aber als Erwachsene.[2]

 

[Karteikarte für Anna Prokopiak beim Volksbund (mit falschem Geburtsdatum).][3]

 

[Das richtige Geburtsdatum für Anna Prokopiak lautet 11.02.1944][4]

Im Jahre 1954 waren also das Innenministerium des Landes Schleswig-Holstein und der Volksbund der Ansicht, dass sich auf dem Friedhof in Bad Bramstedt 14 Kindergräber befinden würden (tatsächlich waren es aber 15). Diese Kinder waren alle nach §6 e) Kriegsgräbergesetz von 1952 als "ausländische Arbeiter" eingestuft worden. Dieser Widerspruch muss schon bald aufgefallen sein, denn am 2. Juli 1955 wurde ein Erlass in Umlauf gebracht, in dem kategorisch die Streichung aller Kindergräber aus den offiziellen Listen angeordnet wurde: Siehe hierzu die handschriftliche Randbemerkung auf Seite 2 des obigen Dokuments. Rechts von der zusammenfassenden Klammer steht: "Abg. (Abgang) Ber. v. (Bericht vom) 9.8.1955 Erl. v. (Erlass vom) 2.7.55 Kindergräber".

Nach dem 2. Juli 1955 wurden alle Landräte des Landes Schleswig-Holstein vom Innenministerium angeschrieben und um eine entsprechende Berichtigung der den Kreis betreffenden Kriegsgräberlisten gebeten. Der Landrat des Kreises Segeberg meldete bereits am 9. August 1955 Vollzug, und das Innenministerium leitete die berichtigten Listen am 15. August 1955 an den Volksbund weiter. Für den Kreis Segeberg ergab sich der "Abgang" von 14 Kindergräbern auf dem Friedhof in Bad Bramstedt, 3 Kindergräber in Seth, 14 Kindergräber in Bad Segeberg und 1 Kindergrab in Rickling.

 

[Schreiben des Innenministeriums an den Volksbund vom 15. August 1955, Archiv VB Heikendorf.]

[Rückseite des Schreibens vom 15. August 1955 mit den "Abgangsmeldungen" für den Kreis Segeberg.]

 

Copyright: Uwe Fentsahm (Brügge, November 2024)

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[1] Die Liste befindet sich auch als vierseitige PDF-Datei im Archiv des Autors. Das "Gesetz über die Sorge für die Kriegsgräber (Kriegsgräbergesetz)". Vom 27. Mai 1952. (BGBl 1952, Teil I, S.320 ff.).

[2] Auf diesen Fehler hat der Autor die für Kriegsgräber zuständige Sachbearbeiterin des schleswig-holsteinischen Innenministeriums im Jahre 2024 hingewiesen. Nach anfänglichem Zögern wurde das Geburtsdatum berichtigt. Für das Grab von Anna Prokopiak erhält die Stadt Bad Bramstedt aber weiterhin die Pflegepauschale von jährlich 24,75 €.

[3] Die Karteikarte befindet sich im Archiv des Volksbundes in Heikendorf.

[4] Die Sterbeurkunde für Anna Prokopiak stammt aus den Arolsen Archives (ID 77099027).