Das Gottschick-Papier von 1966

Die Gräber der Kinder, die 1965 noch vorhanden waren, wurden als Kriegsgräber wieder anerkannt.

 

 

Am 27. Januar 1966 schrieb Hermann Gottschick (früher Mitarbeiter im Reichsarbeitsministerium) im Auftrag des Bundesinnenministers an den hessischen Innenminister in Wiesbaden: „Sie haben nach Inkrafttreten des Gesetzes über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft (Gräbergesetz) vom 1. Juli 1965 (Bundesgesetzbl. I S.589) erneut die Frage aufgeworfen, ob die Gräber ausländischer Kinder, die nach dem 1. September 1939 während des Arbeitseinsatzes ihrer Eltern in Deutschland geboren wurden und bis zum 8. Mai 1945 im damaligen Reichsgebiet verstorben sind, in die öffentlichen Sorgemaßnahmen einzubeziehen sind.“[1] Offensichtlich war der hessische Innenminister nicht zum ersten Mal mit dieser Frage an das Bundesinnenministerium herangetreten.

In seiner Antwort nahm Gottschick zunächst einmal Bezug auf das vorhergehende Gräbergesetz von 1952 (BGBl. I, S.320): „Nach der bisherigen Rechtslage bestand für diese Gräber keine Möglichkeit der Anerkennung, da §6e des Kriegsgräbergesetzes von 1952 auf die zum Arbeitseinsatz im damaligen Reichsgebiet verpflichteten, oder zu diesem Zweck dahin verbrachten ausländischen Arbeiter (-innen) selbst, nicht jedoch auf einen erweiterten Personenkreis abstellte.“ Mit dieser Aussage überspielte Gottschick die Tatsache, dass die exakte Formulierung von §6e sich auf die „ausländischen Arbeiter, die während des zweiten Weltkriegs von der deutschen Arbeitseinsatzverwaltung für eine Beschäftigung im damaligen Reichsgebiet verpflichtet wurden und während der Zeit ihres Arbeitseinsatzes gestorben sind“ bezog. Für ihn waren offensichtlich in dem Begriff „Arbeiter“ auch alle „Arbeiterinnen“ inkludiert. Die Kinder dieser Frauen fanden jedoch keine Berücksichtigung, obwohl ein juristischer Interpretationsspielraum das durchaus ermöglicht hätte.

Diese engstirnige, empathielose juristische Auffassung hatte damals fatale Folgen: So wurde z.B. in Schleswig-Holstein am 2. Juli 1955 ein Erlass des Innenministeriums herausgegeben, in dem kategorisch die Streichung aller Kindergräber aus den offiziellen Kriegsgräberlisten des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge angeordnet wurde.[2] Damit verbunden war auch die Tatsache, dass für diese Kindergräber von Seiten des Bundes und der Länder keine finanziellen Mittel (jährliche Pauschalbeträge) mehr zur Pflege der Gräber gezahlt wurden.[3]

Die Träger der Friedhöfe in Schleswig-Holstein reagierten (fast alle) umgehend auf diese neue Situation und räumten die auf den Friedhöfen befindlichen Gräber der ausländischen Kinder ab. In Schenefeld (damals Kreis Rendsburg) war dies nachweislich bereits bis 1949 geschehen.[4] Dabei wurde auch die in den Friedhofsordnungen vorgesehene „Verwesungszeit“ nicht beachtet. In der Friedhofsordnung für die Kirchengemeinde Bad Bramstedt findet sich folgende Formulierung: „Die Verwesungszeit beträgt 25 Jahre, bei Gräbern von Kindern im Alter bis zu 12 Jahren, 20 Jahre.“[5]

Inzwischen war aber 1965 eine Neuordnung des Kriegsgräberrechts erfolgt und nach Ansicht von Gottschick in §1 Abs.1 Ziff.9 „eine zweite Alternative geschaffen worden, wonach auch die Gräber von Personen, die in der Zeit vom 1. September 1939 bis 8. Mai 1945 im Gebiet des Deutschen Reiches gegen ihren Willen festgehalten worden und während dieser Zeit verstorben sind, als Gräber der Opfer von Gewaltherrschaft anzuerkennen sind.“[6] Der §1 Abs.1 Ziff.9 des neuen Gräbergesetzes bezieht sich tatsächlich auf „Gräber von Personen, die in der Zeit vom 1. September 1939 bis 8. Mai 1945 zur Leistung von Arbeiten in das Gebiet des Deutschen Reiches verschleppt oder in diesem Gebiet gegen ihren Willen festgehalten worden waren und während dieser Zeit gestorben sind.“[7]

Diese Formulierung inkludierte jetzt nach Gottschicks Ansicht auch die Kinder: „Auf die Kinder, die während des zwangsweisen Arbeitseinsatzes ihrer Eltern im obengenannten Zeitraum im damaligen Reichsgebiet verstarben, findet m.E. diese Alternative Anwendung. Diesen Kindern hat es an einer rechtlich relevanten Einsichtsfähigkeit zur Bestimmung ihres Aufenthaltsortes gefehlt. Es kommt somit auf den Willen ihrer Eltern an. Hierbei wird im Regelfalle davon auszugehen sein, dass die Eltern gegen ihren Willen im Gebiet des Deutschen Reiches festgehalten wurden.“[8] Es ist sehr bedauerlich, dass diese Auffassung bei den Verantwortlichen nicht schon 1952 vorhanden gewesen ist.

Abschließend gab Gottschick dem angeschriebenen hessischen Innenminister Recht: „Ich stimme deshalb Ihrer Auffassung zu, diese Gräber in die öffentlichen Sorgemaßnahmen einzubeziehen.“ Leider waren in der Zwischenzeit fast alle ausländischen Kindergräber „abgeräumt“ worden.

Es ist anzunehmen, dass man 1966 auch in Schleswig-Holstein die veränderte gesetzliche Grundlage für die Anerkennung von Kriegsgräbern akzeptiert und umgesetzt hat: Auf dem Friedhof der Gemeinde Sülfeld (Kreis Segeberg) sind die ausländischen Kindergräber (aus welchen Gründen auch immer) erhalten geblieben, und der Träger des dortigen Friedhofs erhält auch heute noch die jährliche Pflegepauschale (von derzeit 24,75 €) pro Grab. Am 17. November 2024 fand in Sülfeld die Einweihung der aufwändig restaurierten Kriegsgräberanlage statt.[9] Das sollte aktuell Vorbild für alle anderen Träger von Kriegsgräberanlagen sein.

 

Copyright: Uwe Fentsahm (Brügge, November 2024)

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[1] Eine Kopie des Schreibens vom 27. Januar 1966 befindet sich im Archiv des Autors. Das Dokument ist aber auch im Internet zugänglich https://niedersachsen.volksbund.de/fileadmin/redaktion/Niedersachsen/LV_Niedersachsen/Projekte/Erinnern_und_Gedenken/Kriegsgraeberstaetten/Projekte_KGS_Ministerialerlass_Kindergraeber.pdf (zuletzt abgerufen am 20.11.2024).

[2] Siehe dazu den Onlineartikel des Autors über den Erlass vom 2. Juli 1955.

[3] Bereits im September 1949 war öffentlich bekannt, dass es für die Pflege von Kriegsgräbern im Rechnungsjahr 1949 für jedes Grab 3 DM geben würde (Kirchliches Gesetz- und Verordnungsblatt für Schleswig-Holstein 1949, S.81).

[4] In Schenefeld sind bis 1949 insgesamt sechs Kindergräber eingeebnet worden. Das bestätigte der örtliche Pastor auch in einer Liste für den Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen (Arolsen Archives ID 70728707). Siehe dazu auch den Aufsatz des Autors in den Mitteilungen der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte: Uwe Fentsahm, Die verstorbenen Kinder von Zwangsarbeiterinnen: Warum sind ihre Gräber nach 1945 so schnell verschwunden? (Mitteilungen 105, Herbst 2023, S.7).

[5] Friedhofsordnung für die Kirchengemeinde Bad Bramstedt vom 5. März 1935, in: Kirchenarchiv Altholstein (in Neumünster), 18.35.74 Nr. 469 (Bordesholm).

[6] Schreiben vom 27. Januar 1966 (siehe Anmerkung 1).

[7] BGBl. 1965, I, S.589.

[8] Schreiben vom 27. Januar 1966 (siehe Anmerkung 1).

[9] Siehe den Artikel darüber im Hamburger Abendblatt vom 13. November 2024.